Verwandlung einer Puppenfabrik

oder: „Die Anfänge der Kommune Waltershausen“

von Henner Reitmeier

Es gibt immer wieder Gegner des Kapitalismus, die keine Lust mehr haben, auf die Revolution zu warten. Diese Leute fangen in irgendeinem Winkel kurzerhand mit der Revolution an. Sie gründen Kommunen.

Einen Schub erhielt die mehr oder weniger anarchistisch orientierte deutsche Kommunebewegung um 1968. Allerdings ist sie bis heute eine Randerscheinung geblieben. In rund 50 Kommunen, die nur selten mehr als ein Dutzend erwachsene Mitglieder haben, dürften gegenwärtig 600 bis 700 Menschen leben, die von der sogenannten Ellenbogengesellschaft die Nase voll haben. Neben vielen persönlichen Kontakten halten die Gruppen über das interne Zweimonatsblatt Kommuja Verbindung, das nach Absprache auf jährlichen Kommunetreffen von jeweils einer anderen Kommune gemacht wird. Selbstverständlich gibt es keine Leitungsgremien. Die informellen oder spontanen „Strukturen“ und die Vielfalt der Szene entsprechen sich. Uwe Kurzbein vom Olgashof schrieb einmal den schönen Satz auf, jede Kommune habe ein Recht darauf, ihre eigenen Fehler zu machen. Trotzdem spielen Erfahrungsaustausch und gegenseitige Hilfe keine unbedeutende Rolle. So wird mich Peter ab Kassel in einem mit Anhänger versehenen Transporter mitnehmen, den ihm seine bisherige Kommune Niederkaufungen anstandslos für das erste „Waltershäuser“ Baucamp zur Verfügung gestellt hat.

Probleme kommen vors Plenum

Kommune ist der Versuch selbstorganisierten Gemeinschaftslebens ohne Herrschaft. Wesentlich dafür ist ein Umgang miteinander, der von gegenseitiger Achtung, von Transparenz und Solidarität geprägt ist. Die Kunst des Zuhörens steht hoch im Kurs. Anfänger des Gemeinschaftslebens sind nicht selten an ihrem Drang zu erkennen, zu allem ihren Senf zu geben. Während aber das herrschende Demokratietheater von Überredungskünstlern wimmelt, ist die Gefallsucht in Kommunen weniger verbreitet. Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit zählen. Jenseits der persönlichen Habe gibt es in den meisten Kommunen nur Gemeineigentum, also etwa an Grundstücken, Gebäuden, Maschinen, Produktionsmitteln aller Art. Es gibt keine Ämter; vielmehr Verantwortungsbereiche und Arbeitsteilungen, die jederzeit verändert werden können. Alle Probleme, die sich nicht im alltäglichen Miteinander klären, kommen vor das Plenum der Kommune. Die Vollversammlung trifft ihre Entscheidungen ausschliesslich nach dem Konsensprinzip. Solange auch nur ein Veto besteht, wird keine Entscheidung getroffen. „Machtworte“ von Kanzlern und Kanzlerinnen sind undenkbar. Dagegen kann es durchaus zu Aufständen, Spaltungen, Siechtum kommen. Aber dann ist die Kommune am Ende. Vielleicht erheben sich aus den Trümmern zwei neue Kommunen?

Soweit ich sehe, sind die grösseren Kommunen die stabileren. Das liegt vermutlich nicht nur an den grösseren materiellen Ressourcen. In einer winzigen Landkommune, die aus fünf Erwachsenen und drei Kindern besteht, können Konflikte rasch heikel und unlösbar werden. Fällt aber einer aus, bricht die Kommune schon fast zusammen. In einer grösseren Kommune gibt es in jeder Hinsicht mehr Möglichkeiten des Ausweichens und des Ausgleichens. Peter hat rund 15 Jahre in Niederkaufungen gelebt. Wie er mir versichert, gibt es dort etliche Leute, mit denen er so gut wie nichts zu tun hat, ohne dass es dem Gemeinschaftsleben Abbruch täte. In dieser Kommune leben über 70 Menschen zusammen. Ob sie jemals von Waltershausen „überflügelt“ werden wird, lässt sich derzeit schlecht abschätzen…

Anarchie ist machbar

Immerhin gibt es schon einen Verein. Wir befinden uns eben in Deutschland, wenn auch im östlichen. Für zwei Aprilwochen haben die derzeit acht Mitglieder des KoWa e.V. (Kommune Waltershausen e.V.) zu einem „Baucamp“ in ihr neues Domizil geladen. Es handelt sich offenbar um eine Art Abenteuerurlaub, denn ausser Schutt, zerborstenen Fensterflügeln und leeren Bierdosen gibt es in der 1996 stillgelegten und entkernten ehemaligen Puppenfabrik Kämmer & Reinhardt so gut wie nichts. Peter und ich sind die ersten Camper, die ihren Fuss beziehungsweise die Niederkaufunger Autoreifen auf das unweit vom Waltershausener Bahnhof gelegene Fabrikgelände setzen. Wir fahren mit unserem Gespann durch die Wüste, die sich längs des Seitenflügels erstreckt. Einige junge Birken zeigen erstes Grün. Das Gespann soll uns unter anderem in die Lage versetzen, während des Baucamps Brennholz im Thüringer Wald zu machen, an dessen Nordrücken sich das hübsche Städtchen Waltershausen schmiegt. Es hat 11000 Einwohner, eine Stadtbücherei, drei Altenheime und liegt nicht weit von Gotha entfernt. Die Försterin hat uns grünes Licht gegeben, obwohl man Brennholz eher im Februar macht. Kettensägen hat uns die Landkommune Haina (Nesse) bei Eisenach zugesagt. Die Aktion ist nicht ohne Witz: Das Brennholz der zukünftigen Kommune Waltershausen wird eher da sein als deren Heizung – und als die Kommune überhaupt.

Quellwasser und Plumpsklo

Wir biegen zu Fuss um den Seitenflügel in den Innenhof. Es fehlt nicht an Müll und streunenden Katzen. Einen gewissen Schock versetzen uns zwei Arbeiter, die in der Durchfahrt des spitzwinklig angelegten mächtigen Ziegelbaus bis zum Nabel in der Erde stehen. Sie versichern uns, der Wasseranschluss sei frühestens am Montag fertig. Dazwischen aber liegt ein ganzes Wochenende. Wovon sollen die rund ein Dutzend Camper, die das KoWa-Ostertreffen vorbereiten werden, bis zum Montag ihren Tee kochen und ihre Zähne putzen? Not macht erfinderisch. Oberhalb des Waltershausener Marktplatzes gibt es einen Brunnen, der von Quellwasser des Burgbergs gespeist wird. Dort füllen wir bis zum Dienstag unsere Wasserkanister. Unterdessen arbeiten mehrere Leute im Erdgeschoss des Hauptgebäudes an der Fertigstellung eines behelfsmässigen Sanitärraumes, der am Ende drei Waschbecken, eine Dusche mit Durchlauferhitzer, eine Waschmaschine und zwei Kloschüsseln zu bieten hat. Ausser den Zuleitungsschläuchen und Abflussrohren sind sämtliche Installationen gebraucht. Solange noch kein Wasser rauscht, verrichten die Camper ihre Notdurft in einem eilends aus verstreuten Schrankteilen zusammengezimmerten Plumpsklo auf dem Fabrikhof. Ein transportables Miet-WC kann sich KoWa e.V. nicht leisten. Es ist schon viel, wenn er der Treuhand für die 1,7 Hektar grosse Müllhalde rund 130000 Euro in den Rachen geschmissen hat.

Immerhin verfügen wir vom ersten Tag an über elektrischen Strom. Er kommt von einem Baustromkasten, den uns die Stadtwerke an den Fabrikzaun gestellt haben. Zwei Stunden nach Peter und mir trifft Detlef aus Berlin ein. Bis zum Abend hat der gelernte Elektriker im ersten und zweiten Stock des Hauptgebäudes zahlreiche Kabel, Verteiler- und Steckdosen und die erforderlichen Sicherungsschalter gelegt. Ute aus Solingen ist begeistert, weil sie von der Treuhand-Ruine, die sie kannte, mit zwei erleuchteten Fensterbändern begrüsst wird. Allerdings sind die Fensterscheiben überwiegend zerbrochen. Einige Flügel können wir kurzerhand austauschen -– immerhin hat die Puppenfabrik bei rund 2800 Quadratmeter Nutzfläche ungefähr 300 Fenster zu bieten. Auf die anderen beschädigten Flügel spannen wir mit Hilfe dünner Leisten eine kräftige genoppte Klarsichtfolie, die Klaus aus Düsseldorf mitbringt. Unterdessen sind andere Camper damit beschäftigt, unsere beiden Säle nebst der behelfsmässigen „Küche“ zu entrümpeln, auszufegen und mit ersten Möbeln zu bestücken. Stefan aus Jena bringt seine Gitarre, Michi aus Münster seine Kochkünste mit. Schon ist in der Küche ein Propangasherd aufgestellt. Das Abendessen nehmen wir an Klapptischen des Waltershausener Marktvereins ein. Aus einem Gespräch mit meinem Banknachbarn Detlef ergibt sich, dass er mir ein kleines Zelt abtreten kann, das seiner Länge von 1,99 Meter ohnehin nicht gewachsen wäre.

Tannenmeise und Rio Reiser

Das Zelten innerhalb der Fabrik war Peters Idee. So schafft sich jeder einen Anflug von Privatgemach in den beiden Fabriksälen, von deren Decken und Wänden der Putz herabrieselt. Immerhin haben die Säle Holzdielen. Dadurch erübrigt es sich, die Heringe für die Zeltschnüre einzudübeln. Wir klopfen kurzerhand Hakennägel ein. Die ersten Nächte auf unseren Isomatten oder Luftmatratzen kommen einer Katastrophenübung gleich, weil es saukalt ist. Durch die Puppenfabrik pfeift überall der Wind. Dann schlägt endlich das Wetter um. In einem Winkel jenseits des Burgbergs, der Deissingslust heisst, schwitzen die Brennholzmacher. Die Frauen werden durch die Schwarzwälderinnen Dodo und Trixi vertreten. Neben Misteldrossel, Tannenmeise, Kleiber vernehme ich auch den schalmeienartigen Revierruf des Schwarzspechts: ein ermutigendes Zeichen, dieser Vogel ist anspruchsvoll in der Wahl seiner Wälder.

Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes mausert sich das Badezimmer unter Anleitung der Badenser (Freiburg) Jürgen und Andy. Renate aus Giessen erklärt einen wurmstichigen Schreibtisch zum Kommunebüro; sie wälzt bereits Pläne über die Aufstellung eines Tresors, der unser Defizit fassen könnte. Fliessendes Wasser auch in der Küche; die Doppelspüle stammt aus einer früheren Ehe von Klaus. Andy hat eine Musikanlage mitgebracht. Bevorzugt werden Cochise, Rio Reiser und Anna Hagais gehört. Der ortsansässige Trödler N. hat uns von seiner jüngsten Wohnungsauflösung eine Kommode mit versenkbarer elektrischer Nähmaschine überlassen, die ich gemeinsam mit Karla aus Berlin inspiziere. Wie sich herausstellt, arbeitet die Sperrmüllmaschine tadellos. So kann ich zwei Bettlaken aneinandernähen, die Elke aus Frankfurt/Main mit unserer Antikriegsparole bepinseln wird: „Plündert die Rüstungsbosse, nicht die Erwerbslosen und Kranken aus!“ Mit Jürgen spanne ich das Transparent in der August-Bebel-Strasse 4 über unsere Hausfassade. Mag sich Feldwebel Bebel im Grabe umdrehn! Eine Fabrik in einer Rosa-Luxemburg-Strasse war in Waltershausen leider nicht zu haben.

Lokaltermin im Badezimmer

Beim Ostertreffen wachsen wir auf rund 25 Personen an. Alle Sympathisanten oder Anwärter ziehen ihren Hut vor unserer Pionierarbeit. Die thematische Arbeit in Kleingruppen wird durch Spiele aufgelockert. Ein Vorschlag zur Probezeitregelung wird einmütig verabschiedet. Nach dem Treffen widmen sich die verbliebenen Baucamper der unmittelbaren Vorbereitung des ersten Bauabschnitts der zukünftigen Kommune Waltershausen. Er ist für den vorderen Teil des Seitenflügels geplant. Nach einer Säuberungsaktion im ersten Stockwerk lässt sich mit unerschrockener Phantasie zwei grossen Sälen ansehen, dass hier schon im Oktober acht bis zehn Kommunarden (oder deren Kinder) in ihren behaglichen Zimmern wohnen werden.

Peter, gelernter Architekt, hat die Pläne gezeichnet. Mit Christine aus Osnabrück reisst er auf dem gefegten Estrich die Zwischenwände an. Ein besonderer Lokaltermin gilt dem Badezimmer, in dem die beiden Kloschüsseln immer wieder ausradiert und neu eingezeichnet werden; eine wird schliesslich ausgelagert, was die Besucher erfreün wird. Ich beschäftige mich unterdessen mit der Sicherung des Treppenhauses, ist doch seit 1996 rund die Hälfte der Geländer zertrümmert worden. Detlef und Jörde (Waltershausen) telefonieren die Baustoffhandlungen nach den preisgünstigsten Angeboten für etliche Kubikmeter an Kanthölzern, Dämmplatten, Dielenbrettern und dergleichen ab.

Jeden Morgen nach dem Frühstück halten wir Arbeitsbesprechung und gehen unsere Aufgabenliste durch. Auch das tägliche Kochen und Abwaschen zählt dazu. Allerdings werden wir im Laufe der Nachosterwoche immer weniger. Am Samstag sind wir nur noch zu viert. Abends lockt uns Jörde zum Verbrüdern und Bratwurstessen zum Tag der offenen Tür der Waltershausener Feürwehr. Für fünf Euro Eintritt ist uns die dort gebotene Blasmusik allerdings zuviel. Wir spielen eine Runde Doppelkopf „zu Hause“, wie Peter mit Betonung sagt. Spätestens 2010 sollen sich auf unserer innerstädtischen Wüste 80 bis 100 Menschen am selbstorganisierten, herrschaftsfreien Gemeinschaftsleben versuchen. Ich sehe die frisch gepflanzten Pappeln und Eschen und die Kommunekinder wachsen; ich höre die Abrichte heulen und das Saxophon der kommuneeigenen Rentnerband. Wer es nicht glaubt, möge sich zum nächsten Baucamp anmelden (Näheres unter Telefon 03622/200504).

Demokratie abgewählt

In anarchistischen Kommunen lassen sich weder Chefs noch Wohlfahrtsausschüsse noch Sprecher antreffen. Alle Beteiligten sind gleich. Bilden sich Hierarchien unter der Hand heraus, werden sie aufgedeckt. Ein gutes Symbol für die anarchistische Struktur haben wir im Kreis. Stellen Sie sich Rundhütten vor, die wiederum kreisförmig um den Dorfteich angeordnet sind. Und nun halten Sie den Wolkenkratzer der Deutschen Bank dagegen. Dann ahnen Sie auch gleich, dass Herrschaft viel mit Männlichkeit zu tun hat.

Was die Bedürfnisse, Fähigkeiten, Neigungen aller Beteiligten angeht, so sind sie selbstverständlich nicht gleich. Jeder soll sich also möglichst unbehindert – die Grenze bilden die anderen– persönlich entfalten können. Der Einzigartigkeit der beteiligten Personen trägt auch die Ökonomie Rechnung, indem sie gleiche oder pauschale Zumessungen ablehnt. Das Ermessen liegt beim einzelnen. Jeder gibt, was er kann, und nimmt, was er braucht. Das erfordert natürlich ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Alles ist auf das Subjekt zugeschnitten. Die Kommune gibt es nicht – die einzelnen Kommunarden bilden die Kommune. Das Gemeinwesen hat nicht den geringsten Selbstzweck. Versichert uns also der feurig singende Ernst Busch, die Partei habe immer recht, können Anarchisten vor dieser Drohung nur die Flucht ergreifen.

Die politische Verfassung anarchistischer Kommunen ist keineswegs die Demokratie, die ihren Nährboden in der Konkurrenz hat. Die Demokratie ist niemals etwas anderes als eine Herrschaftsform des Kapitals gewesen. Wer betuchter, beziehungsreicher, pressewirksamer, verschlagener ist, setzt sich durch. Es gilt, den Konkurrenten „vom Markt zu verdrängen“. Ihn gleich zu erschlagen, liegt da nahe, denn er könnte sich ja wieder aufrappeln. Die Demokratie hat uns alle Vorformen des Erschlagens gelehrt, ich nenne nur das Verächtlichmachen und das eiskalte Schneiden des sogenannten Mitwettbewerbers. Sie ist die Schule des Hauens und Stechens. Man sticht sich aus.

Gären wie ein guter Wein

Wir könnten alternativ von Rücksichtnahme sprechen. Rücksichtnahme geht vom Willen zur Verständigung aus. Beim Ringen um den „Konsens“ (die Einmütigkeit), kommt niemand unter die Räder. Dagegen huldigt das demokratische Prinzip der „Mehrheitsentscheidung“ der Stärke. Im Kapitalismus kommt es auf Quantitäten und Schnelligkeit an. „Zeit ist Geld.“ Rücksichtnahme bedeutet deshalb auch, die zu treffende Entscheidung in der Schwebe zu halten, solange kein Konsens erzielt worden ist. Man lässt sie gären – wie ja auch ein guter Wein gären muss.

Für den Kapitalismus stellt Langsamkeit ein rotes Tuch dar. Er will Effizienz. Sein befremdlicher Wertschöpfungsprozess lebt von unaufhörlichen Innovationen, was nur ein Kosename für Zerstörung ist. Der Kapitalismus war zu keiner Zeit eine zivile Gesellschaft. Er ist Krieg an allen Fronten. Sein ständig beschworenes Wachstum hat mit Wachsen nichts zu tun – höchstens insofern, als er arbeitende Menschen wie Zitronen auspresst. Demgemäss wartet der frühere Eingangsgiebel der 1907 errichteten Waltershausener Puppenfabrik Kämmer & Reinhardt mit der dümmlichen Durchhalteparole „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ auf. Mit dieser Ironie werden wir leben oder schlafen müssen.

aus: (c) Junge Welt, 18.07.2003

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