Eine Kommune in der „Biggi“

Mit dem Geist der „68er“ und frischem Elan wird aus der Puppenfabrik-Ruine ein Gemeinschaftshaus

Von Wieland Fischer

Waltershausen. (tlz) – „Hier kann ich mich entfalten“, sagt Lothar Mentz und fährt mit dem Verspachteln von Gipskarton-Wänden fort. Aus einer Werkhalle entstehen Zimmer, aus der einstigen Puppenfabrik „Biggi“ wird eine Wohnanlage. Die Kommune Waltershausen baut die ehemalige Fabrik um. Mentz hilft mit.

„Kommune find ich gut“, sagt der Waltershäuser. Hinter dem Wort Kommune steht aber nicht nach herkömmlichen Sprachgebrauch die Stadt Waltershausen, sondern der Versuchselbstorganisierten Gemeinschaftslebens. Frauen und Männer, Kinder und ältere haben die Industrie-Ruine erworben. Seit einem halben Jahr richten sie den verfallenen Backsteinbau wieder her. Freitag bis Sonntag, 21. bis 23. November, stellt die „Kommune Waltershausen“ erstmals ihr Leben, Ziele und Haus während eines Schnupper-Wochenendes der Öffentlichkeit vor.

Mentz „riecht“ schon eineige Zeit hinein. Es entspricht seinen Vorstellungen, dass ganz unterschiedliche Leute unter einem Dach wohnen und wirken. Er selbst lebt als Single in Waltershausen.Doch er könnte sich vorstellen, in der „Biggi“ einzuziehen. „Dann wäre ich nicht allein.“ Besser alsin der Kneipe am Biertisch sei das allemal, sagt Mentz. „Im Gemeinschaftsraum finden sich immer Gesprächspartner.“ Sagt’s und fährt mit der Arbeit fort.

Ein großes Stück Arbeit liegt hinter den sieben Kommune-Gründern um Jürgen Hörer und Dorothea Ender – und noch vor ihnen. Ihre Vision: Für etwa 100 Menschen könnte die einstige Fabrik ein Zuhause werden. Nach dem Beispiel der Kommune in Niederkaufungen bei Kassel möchten sie das Vorhaben zu einer wirtschaftlich selbstständigen Einheit führen.

Im Mai 1999 trafen sich etwa 40 interessierte Kommune-Neugründer in Niederkaufungen. „68er“ haben dort eine Kommune etabliert. In der Burgmühle Haina praktizieren Familien Kommune im Gothaer Land.

Dreieinhalb Jahre bereiteten die Neu-Waltershäuser den Start vor. Einige sprangen ab. Sieben entschlossen sich zur Gründung in der einstigen Puppenfabrik. „Auf der Vorbeifahrt sind wir darauf gestoßen“, sagt Jürgen Hörer. Seit 1996 steht die „Biggi“ leer und verfällt. Areal, Kleinstadt und Autobahnnähe stellten für die Kommunarden einen guten Kompromiss dar. Die Waltershäuser Stadtväter signalisierten Entgegnkommen. Seit einem halben Jahr baut die Kommune die Fabrik um.

Dorothea Ender hat es sich wärend der vergangenen Monate in einem der drei Bauwagen gemütlich eingerichtet. Andere haben ihr Zelt in einer Fabrikhälfte aufgeschlagen. Im anderen Teil laufen die Bauarbeiten. Die ersten Zimmer sind bereits bezogen.Rückzugsorte.Je nach Bedürfnis kann Nähe und Abstand gewählt werden. „Vielfalt ist uns wichtig“, beschreibt Jürgen Hörer das Miteinander.Ausdruck dessen: gemeinsames Essen und das wöchentliche soziale Plenum. Dort kommen auch Konflikte, die nicht ausbleiben, wenn viele Menschen unter einem Dach wohnen, auf den Tisch.

Für Klaus Rehberg ist Kommune gelebte Alternative zu Kommerzialisierung und Profitstreben Im März 2004 will er eine Schuhmacherwerkstatt eröffnen. Im Moment baut er aber Fenster. Denn der Komplex hat davon etwa 300 Stück.

Als Sehnsucht nach Miteinander sieht Dorothea Ender die Kommune an. Wichtig ist ihr der Umverteilungsgedanke. Sie empfindet es als ungerecht, wenn ein Gärtner sehr wenig verdient, ein Computer-Spezialist dagegen sehr viel. In der Kommune fließen die Löhne aller in eine Gemeinschaftskasse. Das Plenum steckt Aufgaben und Ausgaben ab. „Wir leben nicht auf großem Fuß.“ Schließlich kostete der Kauf des 1,7 Hektar großen Geländes samt Fabrikruine etwa 130 000 Euro. Der Umbau hat auch seinen Preis. Freunde ermöglichen die Investition mit Darlehen. Mit Gärtnerei zur Eigenversorgung, Werkstatt und Sozialem Dienst will die Kommune auf die Beine kommen. „Mit einem Bein sind wir in Waltershausen gelandet“, stellt Hörer fest. Ob das andere auch auf den boden kommt, hänge vom Verein und von den Mitgliedern ab.

Ob Mentz einsteigt, wird sich zeigen. In einem halben Jahr Probezeit kann sich jeder und die Kommune die Bewerber testen. Ein Einstiegsvertrag regelt die Aufnahme. Ausstieg ist möglich. Hörer:“Kommune ist für jeden auch ein Experiment.“

aus: Thüringer Landeszeitung, 19.11.2003

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